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Das Rätsel der profanen Obergeschoße

Kehren wir nach diesem langen Exkurs in die Biographie der Burggrafen zurück zu den Landkirchen mit profanem Obergeschoß. Vieles ist nun aus der bewegten Lebensgeschichte der letzten Pabonen, insbesondere derjenigen Burggraf Heinrichs III., verständlicher geworden. Es sollte im Weiteren auch möglich sein, aus den geschilderten Zeitumständen bei den hier besprochenen Kirchen auf die spezielle Funktion der Obergeschoße zu schließen, wenn es schon die bauliche Disposition als solche nicht erlaubt und bis dato auch kein mittelalterliches Dokument vorliegt, welches bei den Landkirchen den Nutzen der Profangeschoße näher beschrieben hätte.

Bisherige Theorien über die Funktion der Obergeschoße

Im frühen 20. Jahrhundert hatten sich erstmalig Experten für Kunst- und Kirchengeschichte an eine Deutung der Profangeschoße gewagt, jedoch ohne von der Rolle der Burggrafen von Regensburg überhaupt zu wissen und ohne zu einer mehrheitlichen Meinung zu kommen. Ihre Erklärungsmodelle, ergänzt durch ein paar weitere, werden im Folgenden kurz zusammengefasst.

Speicherräume

F. Mader wies 1933 im ersten Band "Regensburg" der Reihe der "Kunstdenkmäler von Bayern" auf eine Urkunde des Regensburger Doms von 1325 hin, in der eine Nikolauskapelle mit einem aufgesetzten Getreidespeicher erwähnt wird, die zum Bau des Regensburger Domes abgebrochen werden musste [01]. Dies war F. Mader ein Fingerzeig darauf, dass die profanen Obergeschoße der Landkirchen in der Oberpfalz als Speicherräume für die beiliegenden Höfe, quasi als Scheune, dienten [02]. Obwohl sich derartige Hinweise auch andernorts und zu anderen Zeiten finden [03] - so verbot z. B. eine Diözesansynode in St. Pölten im Jahr 1284 die Lagerung von Getreide in Kirchen [04] -, muss man in Zweifel ziehen, ob die Getreidelagerung die Primärfunktion der profanen Obergeschoße darstellte. So verfügen die hier vorgestellten Landkirchen nicht über Giebelluken und Flaschenzüge, die das regelmäßige Einbringen von Getreide o. ä. ermöglicht hätten, sondern nur über relativ enge und für den Gütertransport ungeeignete Innentreppen, außerdem wäre die Errichtung ebenerdiger Speicher oder Scheunen an den Kirchen auf dem Land im Gegensatz zur Stadt problemlos zu bewerkstelligen gewesen. Aus Gründen der Brandgefahr bei Blitzschlag wird man auf eine Nutzung der profanen Obergeschoßräume als Speicher für leicht entflammbare Güter wie Heu und Getreide sowieso verzichtet haben. Dass diese Räume von innen fest verriegelt werden konnten, lässt sich mit der Speichertheorie allein auch nicht vereinbaren. Deswegen und wegen der besonderen Religiosität des 12. Jahrhunderts ist die Zweckentfremdung einer Kirche auf dem Land im angesprochenen Sinn wohl nur im Ausnahmefall erfolgt. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass neben einer anderen primären Zweckbestimmung die Obergeschoßräume in unsicheren Zeiten das besonders wertvolle Saatgetreide bargen, von dessen Erhalt das Wohlergehen und die Existenz eines ganzen Hofes oder einer Dorfgemeinschaft im nächsten Jahr abhingen [05].

Aufbewahrungsort für Pretiosen, Sakralgegenstände und Schriftdokumente

Eine von zwei gleichartigen Nischen im Obergeschoßraum des Chorturms der Kirche Neukirchen bei Train.
Letztere Funktion leitet auf die Theorie über, dass die Obergeschoßräume - oder wenigstens die oft zusätzlich vorhandenen und eigens verriegelbaren Räume oberhalb der Chöre und Apsiden - zur Verwahrung von Sakralgegenständen und anderen Pretiosen, wie z. B. Schriftdokumenten und Manuskripten, dienten. Diese Ansicht wurde vor allem von T. Kühtreiber vertreten, der sich mit einer Profangeschoßkirche des 12. Jahrhunderts im benachbarten Niederösterreich befasste, welche weiter unten noch vorgestellt wird - die Propsteikirche von Zwettl [06]. Für diese Kirche ist nicht nur dokumentarisch gesichert, dass sie im 15. Jahrhundert eine Sakristei oberhalb des Kirchenraumes besaß [07], sondern sie weist auch stilistische Merkmale auf, die auf eine gehobene Benutzung als "sacrarium" hindeuten: einen gefassten Durchgang vom Obergeschoßraum zum Chorturm mit einer Kreuzdarstellung und Balkenriegelläufen, einen skulpierten Traufstein mit einer einen Stab oder eine Rolle haltenden Hand am Außengesims, was als Symbol der Rechtsausübung oder besonderer Literalität gedeutet wurde [08].

Es handelt sich hier um ein Nutzungsmodell, wie wir es ähnlich für die Kapelle St. Michael bei St. Emmeram in Regensburg in den Raum stellten (siehe oben).

In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass wir an etlichen Kirchen des altbayerischen Raumes - z. B. in Piesenkofen, Türkenfeld und Gasseltshausen - ähnliche Choroberräume wie in Zwettl fanden, wenn auch ohne Zierelemente, und an den vier benachbarten Obergeschoßkirchen von Aicholding, Deising, Bayersdorf und Ilmendorf sowie an den im selben Raum befindlichen Kirchen von Forchheim und Bad Gögging, ja sogar im entfernten Pinzgau, Traufsteine mit der erwähnten Stabsymbolik nachwiesen. Das Kirchlein St. Georg in Neukirchen bei Train weist am oberen Stockwerk des Chorturmes Wandaussparungen auf, die Sakramentsnischen ähneln und der Aufnahme von Sakralgegenständen gedient haben könnten.

Trotz dieser Analogien kann man in Zweifel ziehen, dass das Gros der Landkirchen über Sakralgegenstände und Schriftdokumente in einem solchen Ausmaß verfügt hätte, dass die Ausweisung eines eigenen Tresorraums im Obergeschoß notwendig gewesen wäre. W. Haas plädiert generell gegen eine derartige Funktion der Obergeschoßräume [09].

Herberge für Landfahrer und Pilger

Eine weitere Erklärung fanden die Obergeschoßräume in der Vergangenheit als Hospiz für Landfahrer und Pilger. Diese Theorie erfuhr nicht zuletzt durch die Veröffentlichungen von C. Frank und die "Kirchengeschichte Bayerns" von R. Bauerreiss weite Verbreitung [10]. Demzufolge sollen vorbeiziehende Pilger, welche im 12. Jahrhundert in hoher Zahl unterwegs waren, für eine Übernachtung die jeweiligen Obergeschoße über die äußeren Obereingänge aufgesucht haben, ohne den Kirchenraum selbst betreten zu müssen. Im benachbarten Bauernhof fanden sie Verpflegung und sonstige Unterstützung.

Hierzu passen durchaus die Platzierung der Kirchen in einiger Distanz zu Burgen oder städtischen Zentren und das eine oder andere Jakobs-Patrozinium [11]. Für drei romanische Johanniterkirchen des Alpenraumes, die im Vintschgau und an der Etsch liegen, - St. Johann in Taufers im Münstertal, St. Metardus in Tarsch, St. Florian bei Neumarkt an der Etsch - ist eine derartige Funktion als Pilgerstätte und Hospiz konkret nachgewiesen. Allerdings weisen gerade diese Kirchen abgesehen von ihrer besonderen geographischen Lage bauliche Spezifika auf, die sie in jeden Fall von den romanischen Profangeschoßkirchen in Altbayern deutlich unterscheiden.

Die Pilgerstätten-Theorie wurde von A. Trapp in seiner Dissertation über die Kirchen [12] vehement in Abrede gestellt, weil er einen Konflikt zwischen dem sehr privaten Herrschaftstrakt auf der Westempore und dem ständigen Publikumsverkehr sah. Allerdings übersieht dieser Einwand die hohe Wertschätzung des Pilgerwesens zur damaligen Zeit, wie schon R. Jakob in einer kritischen Replik zu Trapps Dissertation bemerkte [13]. Diese dürfte besonders bei den Burggrafen von Regensburg vorgelegen haben, zumal der wichtigste von ihnen, Burggraf Heinrich III., selbst zu einem Pilger der besonderen Art wurde [14].

Kreuzfahrerstationen

Gothische Apsismalerei der Kirche St. Georg in Thal: Zur Linken der Heilige Nikolaus von Myra, der in seiner Person möglicherweise das erste Patrozinium der Kirche wiederspiegelt. Nikolaus stattet die drei armen Jungfrauen mit reichlicher Mitgift aus und rettet sie so vor der Prostitution. Darüber das Firmament mit Sonne, Mond und Sterne. Anteile dieser Fresken reichen in die romanische Epoche, d. h. in die Erbauungszeit der Kirche zurück.
In unmittelbarem Zusammenhang mit der Pilgertheorie steht die Ansicht, dass die Kirchen als Kreuzfahrerstationen dienten. Zahlreiche Kirchen liegen entlang der Aufmarschrouten zum zweiten und dritten Kreuzzug, in ungefähren Tagesritt-Abständen entlang der Täler von Donau und Altmühl und an alten Handels- und Heerstraßen, so dass eine Nutzung durch Kreuzfahrer als Übernachtungsort und Zwischenstation durchaus denkbar ist.

Gewisse Patrozinien der Kirchen weisen in dieselbe Richtung, z. B. der häufig zu findende Kreuzzugsheilige Ägidius von St. Gilles, aber auch St. Nikolaus und St. Oswald [15]. Damit ließe sich auch der enge Zeitraum, in dem die Kirchen errichtet wurden, erklären: Mit dem starken Nachlassen der Kreuzzugsidee gegen Ende des 12. Jahrhunderts - nach zwei verheerenden Niederlagen der deutschen Heere - wäre ein weiterer Bau dieses Kirchentypus überflüssig geworden.

Allerdings waren die Aufmärsche zu den Kreuzzügen zeitlich eng begrenzt, während die Kirchen allein aufgrund ihrer Substanz Dauereinrichtungen waren. Außerdem hätte man erwarten dürfen, dass die Kirchen vor allem die Kreuzzugswege gesäumt und sich vor allem am Donaulauf bis Passau und Wien in besonderer Dichte gefunden hätten, was nicht der Fall ist. So wird man auch diese Theorie fallen lassen müssen.

Stützpunkte der Ritterorden

Für einen Teil der Obergeschoßkirchen muss man neben der Herbergsfunktion im Allgemeinen noch eine potentielle Nutzung durch die Ritterorden diskutieren. Den Templern hatten die Burggrafen von Regensburg die Komturei Altmühlmünster und weitere Standorte gestiftet, mit den Templern hatten sie nachweislich Kontakte [16]. Demnach hätten die Ordensritter, die häufig aus dem Landadel stammten und in ihrem Mönchsrittertum anonym blieben, das profane Obergeschoß als geschützte Unterkunft und Versammlungsort und den darunter liegenden Sakralraum für monastische Übungen nutzen können. Dazu passt auch die zeitliche Verortung der Kirchen: Gerade zur Erbauungszeit erfuhren die Ritterorden starken Zulauf und expandierten in ganz Europa [17]. In diese Richtung weisen auch viele Kirchenpatrozinien, z. B. St. Johann Baptist als Leitfigur des Johanniter- und die Mutter Gottes als Leitfigur des Templerordens.

Einige der hier besprochenen Kirchen - in Deising, Aicholding, Baiersdorf - finden sich in unmittelbarer Nähe der Templerkomturei Altmühlmünster, in Oberweiling soll sogar eine Propstei der Templer bestanden haben [18]. Im Falle Deisings ist die Zugehörigkeit zum Templerbesitz konkret nachgewiesen, bei der Kirche in Baiersdorf ist sie aufgrund baulicher Ähnlichkeit und der unmittelbaren Nähe möglich, zumal die Ortstradition von einer Zugehörigkeit zu einem Kloster spricht. Allerdings relativiert sich gerade bei diesen Kirchen der vermutete Verwendungszweck wegen der Nähe der Komturei: Warum brauchte man Stützpunkte an dieser Stelle, wenn das ungleich größere Mutterhaus in nur einigen Kilometern Entfernung stand?

Die Finanzkraft der Ritterorden würde zwar die Aufwändigkeit der Kirchen erklären, allerdings müsste man dann ebenfalls eine weitläufigere Verteilung der Kirchen - über die nachgewiesenen Räume hinaus - annehmen. Im Übrigen ist in keinem weiteren Fall von Obergeschoßigkeit ein Patronat der Ritterorden belegt, das Engagement des Deutschordens käme mit einem Beginn nach 1190 sowieso zu spät. So bleiben zunächst auch bei diesem Deutungsansatz viele Fragen und Zweifel.

Statussymbol - Bergfriedersatz

Diese von W. Haas 1985 angedachte und 1995 wieder aufgegriffene Theorie [19] wurde bereits im Kapitel "Die Kapelle am Edelsitz" diskutiert. Der Autor beobachtete bei den Kirchenstandorten, so sie an Burganlagen standen, das Fehlen von Bergfrieden. Er sah deshalb für die Obergeschoßräume der Kirchen als einzige sinnvolle Nutzungsanforderung "die letzte Zuflucht und den erhöhten Beobachtungsstandpunkt" - im Sinne eines Bergfrieds. Deshalb seien an die Obergeschoße keine besonderen Qualitätsanforderungen gestellt worden, sondern sie sollten nur "sowohl eventuellen Angreifern als auch den Besitzern selbst den Eindruck unzerstörbarer Festigkeit vermitteln… und einen Bergfried also leidlich ersetzen".

Allerdings relativierte der Autor am Ende selbst seine These auf vielfältige Weise und lehnte es ab, sie als "Patentlösung" zu sehen. Er räumte ein, dass die Profangeschoßkirchen den Bergfrieden "unter repräsentativen und fortifikatorischen Gesichtspunkten nicht gleichwertig" waren, dass sich "weder der Nutzen des sakralen Unterbaus für das Obergeschoß noch die gegenseitige Unabhängigkeit der beiden Elemente belegen lässt" und dass es nicht recht glaubhaft sei, "dass man nur in einem engen geographischen Bereich… auf die Idee gekommen sein sollte, auf die besprochene Weise teure Türme einzusparen" [20].

Wir sehen wie W. Haas durchaus den repräsentativen Charakter der Obergeschoßkirchen und haben auf die enthaltene Herrschaftssymbolik bereits an anderer Stelle hingewiesen, postulieren aber zusätzlich einen konkreten Nutzen der Obergeschoßräume. Die "Bergfried"-Theorie relativiert sich besonders durch Argumente, die zum Teil schon vorgetragen wurden, aber hier nochmals zusammengefasst werden:

  • Der Begriff "Bergfried" setzt zwangsläufig die Existenz einer Burganlage voraus, doch nur in den allerwenigsten Fällen wurden Obergeschoßkirchen in eine veritable Burganlage integriert.

  • Dabei folgte der Burgenbau stets dem Kirchenbau und nicht umgekehrt. Das heißt konkret: Bei den meisten Kirchen ist zum Erbauungszeitpunkt eine freie Lage anzunehmen, der beigestellte Ministerialensitz dürfte die Größe eines bäuerlichen Gutshofes kaum überschritten haben, ein Mauerring ist zu diesem Zeitpunkt nicht anzunehmen.

  • Nicht alle Obergeschoßkirchen sind jene turmartigen Bauten, die das Bild des Bergfrieds suggerieren, einige sind trotz der Zweigeschoßigkeit relativ klein und niedrig geblieben [21].

  • Die Obergeschoßräume weisen in der Regel nur kleine Licht- und Luftscharten auf, welche die Erfordernisse eines "erhöhten Beobachtungsstandpunktes" und einer aktiven Verteidigung in keiner Weise gewährleisteten.

  • Generell ist die Verwendung des Begriffs "Bergfried" ungünstig, suggeriert er doch eine Situation, wie sie nur für eine spätere Zeit und für größere Burganlagen repräsentativ ist, nicht jedoch für die Kirchenstandorte zur Mitte des 12. Jahrhundert [22].

Zufluchtsort in unsicheren Zeiten

Kirche St. Ägidius in Schönfeld: Schmaler Innenaufgang in der Mauerstärke.
Dass die Obergeschoßräume den Ortsansässigen als Wohn- und Residenzräume auf Dauer dienten, ist ebenfalls nicht anzunehmen, denn mit wenigen Ausnahmen [23] sind sie zu einfach in ihrer Ausführung und zu umständlich und unbequem im Aufstieg. Auch findet man keine Spuren oder Einrichtungen einer ständigen Befeuerung. Man kann jedoch die Ansicht vertreten, dass die profanen Oberräume diesem Personenkreis als passagerer Zufluchtsort im Angriffsfall dienten. In dieser Teilfunktion wollte sie auch W. Haas verstanden wissen, doch stellen sie - so verstanden - weder den Ort einer Verteidigung noch einen "Bergfriedersatz" dar, allenfalls könnte man sie als Präkursoren der späteren Bergfriede bezeichnen - zu einer Zeit, als Feuerwaffen, Belagerungsmaschinen und große Truppenkontingente noch nicht in Mode waren. Für eine aktive Außenverteidigung waren die Kirchen in keinem Fall ausgelegt, denn sie lagen nicht immer strategisch günstig [24], boten nur wenigen Menschen Raum und wiesen weder Schießscharten noch Gusserker oder Pechnasen auf [25]. Insofern ist es bei den Kirchen auch nicht statthaft, von Wehrkirchen [26] oder gar Kirchenburgen zu sprechen.

In der Tat waren zur Zeit der Erbauung in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Verhältnisse alles andere als sicher, wie man den Akten der Zeit entnehmen kann: In den Jahren 1133 und 1146 hatte sich das Bistum Regensburg, in dem die meisten der Kirchen liegen, heftigen Landfehden durch die bayerischen Herzöge ausgesetzt gesehen, was auch die Geistlichen in den Landkirchen und die mit dem Bischof sympathisierenden Landsassen bedroht haben dürfte.
Kirche von Schönfeld: Balkenriegellauf am Treppenaufgang.
Anlässlich der sogenannten Tübinger Fehde zogen im Jahr 1166 marodierenden Böhmen durch das Regensburger Gebiet, wo sie große Schäden anrichteten. Zufluchtsstätten waren also zur Notwendigkeit geworden.

Zur Deutung der Obergeschoße als Zufluchtsort passt auch, dass die jeweiligen Oberräume nicht nur den erwähnten äußeren Obereingang - dann mit einziehbarer Leiter und Verriegelungsmöglichkeit von innen -, sondern sehr oft auch einen auf Mannsbreite reduzierten Innenaufgang aufweisen, welcher zum Kirchenraum mit Balkenriegeln verschlossen [27] und gut blockiert werden konnte. In diesem Zusammenhang wäre auch statthaft gewesen, in den Obergeschoßen vorübergehend Lebensmittel und Saatgetreide zu lagern. Mitunter scheinen sogar Kellergeschoße hierfür ausgebaut worden zu sein [28].

Asyl für abtrünnige Kleriker

A. Trapp argumentierte in seiner Dissertation von 1953, dass es sich bei den Obergeschoßen ausschließlich um Räume des Kirchenasyls handelte, welches in der Zeit des Schismas zwischen 1160 und 1177 besondere Bedeutung erlangt hätte [29]. Demnach sollen sich Geistliche, die der Papstkirche unter Alexander III. anhingen und deswegen verfolgt wurden, in die Kirchen geflüchtet haben. Die Schergen seien insofern abgehalten worden, als sie zum Betreten der Profangeschoße immer den Sakralraum über die Westemporen durchkreuzen und dadurch entweihen mussten, was ihr Seelenheil aufs Spiel setzte. Mit welch schlimmen Konsequenzen Asylbrecher seitens der Amtskirche verfolgt wurden, zeigt beispielhaft der Interdikt, welchen der Regensburger Bischof Heinrich von Wolfratshausen im Jahr 1145 über die Bürger von Regensburg verhängte, weil diese einen Übeltäter, der sich zum Schutz vor Gewaltsamkeiten in eine Kirche geflüchtet hatte, verfolgt und an heiliger Stätte zu Tode gebracht hatten. Der berühmte Gerhoh von Reichersberg hielt diese Maßnahme übrigens für überzogen [30].

Sakramentsnische der Kirche St. Georg in Thal.
Auch die Asyl-Theorie weist dem Prinzip nach einige argumentative Schwächen auf: Hätten die Obergeschoße eine ausschließliche Funktion als Kirchenasylräume gehabt, so hätte man gerade dort die Profanierung vermeiden und ihnen einen besonderen Weihezustand durch Einbau eines Altars oder einer Sakramentsnische verschaffen können. Dies ist jedoch so gut wie nicht der Fall [31]. In mehreren Fällen musste, worauf R. Jakob besonders hinwies, zum Aufsuchen des potentiellen Asylraums auch gar kein Sakralraum verletzt werden, so z. B. in Bernstein, Rinkam, Neukirchen bei Train, Piedendorf, Schönkirch und Thal bei Tuntenhausen [32]. Im Übrigen war bereits durch die römische Synode von 1059 der Friedensbereich der Landkirchen auf 30 Schritte um das Kirchenportal herum erweitert und durch das Konzil von Clermont im Jahr 1095 sogar auf die Umgebung von Wegkreuzen ausgedehnt worden.

Wäre es tatsächlich so gewesen, wie R. Bauerreiss in seiner Kirchengeschichte Bayerns resümierte [33], nämlich dass man anlässlich des Schismas in Bayern "sachlich und ruhig zunächst eine abwartende, ein guter Teil der Bischöfe sogar eine den Kaiser vollbejahende Stellung einnahm", dann hätte die Errichtung der Kirchen mit Asylräumen im Pabonen-Gebiet auch keinen besonderen Sinn ergeben. Warum sollten sich kaisertreue Grafen und die von ihnen eingesetzten Ortsgeistlichen als Asylgeber für Abweichler betätigt haben, wenn sie sich damit ihrem eigenen Souverän entgegengesetzt und sich selbst der Verfolgung preisgeben hätten [34]? Und hätte man dann nicht besonders dort, wo ein Festhalten am Kirchenprimat zu konkreten Strafaktionen wie die Reichsacht geführt hatte, nämlich im Erzbistum Salzburg, besonders viele Kirchen der genannten Bauart finden müssen?

Trapps Theorie gewinnt aber insofern an Relevanz, als das Statement von R. Bauerreiss in seiner Pauschalierung nicht stimmt, und speziell Burggraf Heinrich III. eine äußerst kritische Position gegenüber der Reichskirchenpolitik Friedrichs Barbarossa einnahm, ja sich ihr sogar aktiv widersetzte. Die Umstände wurden bereits ausführlich geschildert. Es ist deshalb höchst plausibel, dass der Burggraf tatsächlich die Notwendigkeit sah, für die Alexandriner im Lande etwas zu tun. Er kann sich besonders nach dem Schisma von 1160 der kirchlich Verfolgten angenommen haben, indem er ihnen Schutzkirchen in seinem Herrschaftsgebiet errichten ließ. Und es ist die Person Heinrichs III., die im Verbund mit anderen Familienmitgliedern die finanziellen Mittel garantierte, diesen speziellen Kirchentyp flächenhaft von Regensburg aus zu verbreiten. Im Westen der geächteten Erzdiözese Salzburg, im Bereich des Chiemgaus, findet man mit den Obergeschoßkirchen von Urschalling, Raiten, Sondermoning und dem Weyerturm im Pinzgau ebenfalls eine gewisse regionale Häufung. Da all diese Kirchen räumliche Bezüge zu bischöflichen Lehen von Regensburg und den Besitz der Pabonen in und an den Alpen aufweisen und diese im 13. Jahrhundert unter staufischem Einfluss dem eigens der Erzdiözese Salzburg entnommenen Suffragenbistum Chiemsee zugeschlagen wurden, kann auch hier der Einfluss der Pabonen entscheidend zum Tragen gekommen sein.

 


Wenn man am Ende die Asyltheorie derart konkretisiert als Erklärungsmodell für die profanen Obergeschoße akzeptiert und mit der Zufluchtstheorie im Allgemeinen verbindet, so wird man in den Obergeschoßräumen Schutzräume im weiteren Sinn zu verstehen haben. Doch noch immer bleiben damit einige Fragen ungelöst:
  • Waren die Pabonen die originären Erfinder dieses Kirchenbautypus?

  • Wer vermittelte dem Burggrafen Heinrich und seinen Nachfolgern die Idee zu diesem originellen Kirchenbau?

  • Entstand der Typus damals in Altbayern neu oder hatte er woanders längst Einzug gehalten?

  • Warum blieben Heinrich III. und sein Bruder die einzigen Grafen in Bayern, die sich schwerpunktmäßig der Errichtung der Kirchen mit Profangeschoß verschrieben?

  • Wie lässt sich die Schutzfunktion der Kirchen für Verfolgte damit vereinbaren, dass diese ihrem Grundkonzept nach ebenfalls dafür vorgesehen waren, mit einem Edelsitz verbunden zu werden?
Tauchen wir angesichts dieser Fragen ein letztes Mal in die Zeitgeschichte ein und werfen wir im nächsten Kapitel einen Blick in die Markgrafschaft Österreich, gerade dorthin, wohin sich Burggraf Heinrich III. von Regensburg um 1125 verheiratete hatte.

 


[01] capella S. Nycolai cum granario super capellam posito…" Siehe Ried: Regesten…, Bd. 2, Urkunde Nr. DCCCXXXIII vom 8. Juli 1325. S. 804f.

[02] Siehe KvB, Stadt Regensburg, Bd. 1, S. 46, Fußnote.

[03] T. Kühtreiber verweist in diesem Zusammenhang mit Angabe von Quellen auf die "Kaufmannskirchen" der norddt. Hanse, auf die Burgkapelle von Strahlenfels in Ostfranken und südniedersächsische Turmkirchen mit "Bühnenzins", welche in dieser Form jedoch ausschließlich später und unter anderen Umständen als der hier besprochene Kirchentyp entstanden sein dürften. Siehe T. Kühtreiber: Studien zur Baugeschichte des Gebäudekomplexes auf dem Zwettler Propsteiberg, Die Ergebnisse der Bauuntersuchungen von 1998, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, Neue Folge 69-71, St. Pölten 2007, S. 343.

[04] Siehe A. Kerschbaumer, M. Binder (Hrsg.): Archiv für Diöcesan-Chronik und Geschichte des Bisthumssprengels St. Pölten, Bd. 2, St. Pölten 1859, S. 340: "granaria non fiant in ecclesiis…"

[05] Die "necessitas temporis", d. h. eine Notzeit, ist im Beschluss von St. Pölten ausdrücklich als Ausnahmefall definiert.

[06] Siehe Kapitel "Der Landkirchenbau in der Ostmark" und: T. Kühtreiber: Baugeschichte..., S. 340ff.

[07] So aufgeführt in einem Inventar der Propstei von 1592. Es steht im Raum, ob erst im Rahmen reformatorischer und/oder gegenreformatorischer Wirren das relativ sichere Obergeschoß in eine Sakristei umgewidmet wurde. Siehe hierzu auch R. Zehetmayer: Die Geschichte der Burg und die Baugeschichte der Propstei Zwettl nach schriftlichen Quellen, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, Neue Folge 69-71, St. Pölten 2007, S. 299.

[08] Ausführliche Diskussion bei T. Kühtreiber: Baugeschichte…, S. 344ff.

[09] Siehe W. Haas: Burgkapellen als Bergfriedersatz…, S. 13.

[10] Siehe C. Frank: Pilgerherbergen des 12. und 13. Jahrhundert, in: Deutsche Gaue 29, 1928, S. 177-184. R. Bauerreiss: Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 3, Das 12. Jahrhundert, St. Ottilien 1951, S. 185. Der Pilgertheorie folgt auch G. Weber: Die Romanik in Oberbayern, Pfaffenhofen 1985, S. 15.

[11] Obwohl in Schondorf eine der schönsten und best erhaltenen Jakobskirchen aus der vorliegenden Reihe steht, wird von den dortigen Lokalhistorikern abgelehnt, dass es sich um eine Pilgerstation gehandelt haben könnte, da hier kein Pilgerweg vorbeigeführt habe. Siehe Festschrift "Schondorf feiert seine Kirchen", St. Ottilien, S. 15.

[12] Siehe A. Trapp: Romanische Kapellen mit profanem Obergeschoß…, S. 123f.

[13] Siehe R. Jakob: Zur Problematik mittelalterlicher Asylkapellen…, S. 7ff.

[14] Vor Heinrich III. hatten schon zwei weitere Mitglieder der Familie Pilgerreisen ins Heilige Land unternommen: Bischof Otto von Regensburg, der Enkel Pabos I., weilte im Jahr 1064 in Jerusalem, er konnte nur unter erheblichen Gefährdungen für Leib und Leben zurückkehren. Burggraf Heinrich II. kehrte nach einem Kreuzzug im Jahr 1101 aus dem Heiligen Land nicht zurück. Er verlor sein Leben im Kampf gegen die Türken und wurde in Jerusalem begraben.

[15] Darauf, dass das Ägidius-Patrozinium gerade für die Burggrafen von Regensburg eine besondere Bedeutung hatte, wies A. Schmid in seinem Aufsatz im Symposium-Band "1000 Jahre Stefling" hin. Siehe A. Schmid: Die Burggrafschaft Regensburg…, S. 15. Zu den "Kreuzzugsheiligen" siehe auch R. Bauerreiss: Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 3, Das 12. Jahrhundert, St. Ottilien 1951, S. 117.

[16] Auf die Verbindungen Burggraf Heinrichs III. zu den Templern und seinem Einsatz für die Etablierung des Ritterordens im Herzogtum Bayern wurde bereits weiter oben ausführlich hingewiesen. Siehe hierzu auch unsere Arbeit unter http://www.robl.de/grab/grab.pdf

[17] Zwischen dem 2. Kreuzzug 1147 - 1149 unter Kaiser Konrad III. und dem 3. Kreuzzug 1189 - 1190 unter Kaiser Friedrich Barbarossa.

[18] Siehe weiter oben und: J. N. von Löwenthal: Geschichte des Schultheißenamts und der Stadt Neumarkt, München 1805, S. 103.

[19] Siehe W. Haas, U. Pfistermeier: Romanik in Bayern, Stuttgart 1985, S. 39f., und W. Haas: Burgkapellen als Bergfriedersatz…, S. 13f.

[20] Sämtliche Zitate aus W. Haas: Burgkapellen als Bergfriedersatz…, a.a.O.

[21] Man denkt z. B. an die Kirchen in Neukirchen bei Train, Piedendorf, Thonhausen, Ainau, Großeisenbach.

[22] Die zeitliche Aufeinanderfolge von Kirche und Bergfried findet sich originell und anschaulich in der Burg Nassenfels, Landkreis Eichstätt, wo der Chorturm einer romanischen Kirche aus Kalksteinquadern, welche am späteren Burgenstandort stand, um 1300 vom Bischof von Eichstätt profaniert, die Gewölbe ausgebrochen und zum Bergfried aufgebaut wurde. Standort, Bautechnik und bauliche Eigenheiten sprechen jedoch dafür, dass auch hier ursprünglich eine Kirche mit profanem Obergeschoß vorlag. Siehe hierzu KdB, Mittelfranken, Bd. 2, Bezirksamt Eichstätt, München 1928, S. 237-240.

[23] Z. B. in Hof am Regen, Schönkirch und Piesenkofen.

[24] Sie sind oft an einer Talflanke oder im Talgrund gelegen, so dass die Anwesen von oben beschossen werden konnten, was besonders die Obergeschoße mit ihren hölzernen Dachstühlen gefährdet haben dürfte.

[25] Die romanischen Schlitzfenster dürfen keinesfalls mit Schießscharten verwechselt werden. Schießscharten kamen nach O. Piper als Verteidigungseinrichtung erst nach Erfindung der Armbrust in Mode und waren dann in der Regel als längere Mauerschlitze ausgeführt und mit einem bei den Fenstern nicht nachweisbaren Quergang versehen (sog. Maulscharten). Siehe O. Piper: Burgenkunde, Bauwesen und Geschichte, München 1895, Köln 2007, S.335 ff. Schlüssel- oder Senkscharten stammen ebenfalls aus späterer Zeit, meist aus dem 15. Jahrhundert.

[26] Die sog. "Wehrkirchen" stammen in der Regel aus späterer Zeit und definieren sich durch einen Wehrhof oder einen Wehrmauerring, in den sich in Gefahrenzeiten die Dorfgemeinschaft mit Vieh, Hab und Gut zurückziehen konnte. Hier wurde auch aktiv verteidigt. Nicht selten wurden solche Anlagen zu förmlichen Kirchenburgen ausgebaut.

[27] Der Nachweis von Balkenriegeln belegt, dass mindestens 1 Person in der Kirche verbleiben musste, um diese von innen zu sichern.

[28] Bei St. Ägidius in Schönfeld und der Burgkapelle von Dobl, möglicherweise auch bei St. Jakob in Unterschondorf.

[29] Siehe A. Trapp: Romanische Kapellen mit profanem Obergeschoß…, S. 144ff.

[30] Siehe Urkunde Nr. CCXXIX in Ried: Regesten…, S. 215f.

[31] Selten, wie z. B. in Schönfeld, ist auf der Westempore eine Sakramentsnische angebracht, die wohl eher den Privatgottesdiensten der Edelleute diente als mit den Erfordernissen des Kirchenasyls in Verbindung stand. In Schondorf am Ammersee soll nach einem Visitationsbericht von 1652 die Jakobskirche einen zweiten Altar "in parte posteriore supra fornice - im hinteren Teil über dem Gewölbe" gehabt haben. Seit welcher Zeit, ist völlig ungewiss.

[32] Diese Kirchen weisen Obereingänge auf, die den Sakralraum umgehen. Im Fall von Bernstein ist das profane Obergeschoß baulich komplett vom Sakralraum der Kirche getrennt.

[33] Siehe R. Bauerreiss: Kirchengeschichte Bayerns…, Bd. 1, S. 68. Mehr zu den damaligen Vorgängen weiter unten.

[34] Ein Asyl für kaisertreue Geistliche hätte den Asylgedanken ad absurdum geführt, da ja kein potenter Verfolger im Lande zu definieren gewesen wäre.

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